Kampf gegen Hunger Satte zehn Milliarden
Müsste man den Fortschritt der vergangenen 60 Jahre in nur vier Zahlen abbilden, wären es diese: Im Jahr 1960 hat die Landwirtschaft für jeden Bewohner der Erde im Schnitt 200 Kilogramm Getreide produziert, bis heute ist der Wert auf 400 Kilogramm gestiegen. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Menschen von drei auf sieben Milliarden.
Was die Statistik in Zahlen ausdrückt, ist in Worten gesprochen ein Wunder: Obwohl sich die Bevölkerung in den vergangenen sechs Jahrzehnten verdoppelt hat, gibt es pro Kopf heute mehr Nahrung. Mit etwa elf Prozent hat der Anteil hungernder Menschen einen Tiefpunkt erreicht. Niemals in der Geschichte ging es uns besser.
Das Außergewöhnliche zur Normalität werden zu lassen, beschäftigt Tausende Wissenschaftler weltweit. Sie arbeiten daran mit neuen Ideen und Verfahren, den Hungerim 21. Jahrhundert endgültig zu besiegen. Ob es ihnen gelingen wird, lässt sich noch nicht sagen - sie stehen vor einer gewaltigen Herausforderung.
Die Zahl der Menschen auf der Erde steigt weiter. Bis zur Mitte des Jahrhunderts werden Prognosen zufolge etwa zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Die Vereinten Nationen gehen deshalb davon aus, dass zwischen 2050 und 2070 doppelt so viel Nahrung produziert werden muss wie heute. Die Voraussetzungen dafür sind schlechter als während der grünen Revolution der vergangenen Jahrzehnte.
Denn um die Klimakrise nicht zu verschärfen, darf die für den Nahrungsmittelanbau verfügbare Fläche nicht größer werden, künftig soll kein Stück Regenwald für neue Felder gerodet werden. So sehen es die Pläne der Vereinten Nationen (Uno) vor. Jede zusätzliche Kalorie muss also auf bereits vorhandenen Äckern und Weiden entstehen. Es klingt paradox: Um langfristig nachhaltig Nahrungsmittel zu produzieren, braucht es laut Uno eine intensivere Landwirtschaft.
Ein Ausweg aus diesem Dilemma weisen neue Technologien, die Gegensätze zwischen hohen Erträgen und umweltschonenden Verfahren versöhnen helfen. Drei Wissenschaftler zeigen, wie das gehen könnte:
- Donald Ort hat über biochemische Prozesse in Pflanzen promoviert und ist heute Professor an der University of Illinois. Laut einer Auswertung der Firma Clarivate Analytics zählt er zu den einflussreichsten Forschern weltweit.
- Rebecca Bart leitet eine Forschergruppe am privaten, not-for-profit-Forschungsinstitut Donald Danforth Plant Science Center in St. Louis und ist auf Pflanzenkrankheiten spezialisiert, die ganze Ernten zerstören können.
- Jean-Michel Ané von der University of Wisconsin-Madison hat einen Doktor in Zell- und Molekularbiologie und ist Professor an der University of Wisconsin-Madison. Sein Spezialgebiet sind nützliche Lebensgemeinschaften zwischen Pflanzen und Mikroben, die Dünger ersetzen könnten.
Der Photosynthese-Künstler
Donald Ort will Pflanzen keine vollkommen neuen Fähigkeiten verleihen, sondern sie auf einem Gebiet schulen, das sie schon beherrschen: der Photosynthese. Grüne Pflanzen gewinnen aus dem Zusammenspiel von Licht und CO2 Energie. Das tun sie allerdings nicht besonders effizient.
Bislang verwendeten Pflanzen zum Wachsen gerade einmal fünf Prozent des Sonnenlichts, sagt Ort. Alles andere sei für die Photosynthese unbrauchbar - bislang. "Wir gehen davon aus, dass sich bis zu 20 Prozent des Lichts nutzen ließe. Das ist ein gewaltiges Potenzial und könnte den Ertrag der Pflanzen mehr als verdoppeln."
Wie funktioniert das Verfahren?
Um diese Entwicklungsmöglichkeit auszuschöpfen, beschäftigen sich Forscher mit dem Pflanzen-Enzym Rubisco. Es holt CO2 für die Photosynthese aus der Luft, arbeitet aber alles andere als perfekt. In einem Viertel der Fälle bindet Rubisco Sauerstoff statt Kohlendioxid. Damit ist nicht nur die Photosynthese unmöglich, in der Zelle entsteht auch ein Giftstoff, dessen Abbau sehr viel Energie benötigt, die der Pflanze beim Wachsen fehlt.
"Rubisco so zu verändern, dass es ausschließlich CO2 aus der Luft holt, ist der heilige Gral meines Forschungsgebiets", sagt Ort. Entsprechend schwierig ist es, eine Lösung zu finden. Mehrere Forscherteams arbeiten daran, noch hat trotz moderner Gentechnikmethoden aber niemand einen Weg gefunden, ein perfektes Rubisco-Molekül zu programmieren.
Wie weit ist die Technik?
Ort und seine Kollegen haben deshalb eine Zwischenlösung entwickelt. Statt Rubisco zu verbessern, haben sie Tabakpflanzen einen energiesparenderen Giftabbauweg implantiert. Inspiriert dazu hat sie ein Mechanismus aus dem Darmbakterium E. coli. Der gentechnisch veränderte Tabak produziert durch den sparsameren Giftabbau 45 Prozent mehr Biomasse als die natürliche Variante.
Er habe schon diverse Anfragen von Tabakherstellern bekommen, sagt Ort. Ihnen zu helfen, sei aber nicht das, was ihn antreibe. "Wir testen derzeit, wie effizient der Mechanismus in wichtigen Lebensmitteln wie Kartoffeln arbeitet", erzählt er. "Es ist mein Anliegen, die Technik zu den Leuten zu bringen, die sie wirklich brauchen." Gelingt das, wäre es ein vielversprechender Weg, um die Erträge von Nutzpflanzen zu erhöhen.
Die Maniok-Ärztin
Selbst die effizientesten Pflanzen helfen jedoch wenig, wenn Krankheiten sie zunichtemachen. In so einem Fall könnte Rebecca Bart helfen. Sie erforscht, wie Viren in Pflanzen vordringen und versucht, diese Mechanismen zu blockieren. Einer ihrer Schwerpunkte liegt auf Maniok-Pflanzen, deren Wurzelknollen in vielen Entwicklungsländern zum wichtigsten Nahrungsmittel zählen.
"Die Pflanzen wachsen an Orten, an denen man nichts Grünes erwartet und brauchen dafür nicht mal Dünger", sagt Bart. Weltweit werden jährlich fast 300 Millionen Tonnen Maniok geerntet. Besonders schwer wiegt daher, dass er so anfällig für Virusinfektionen ist.
Wie hilft Bart den Pflanzen?
Eine der gefährlichsten Maniok-Krankheiten ist die sogenannte Cassava Brown Streak Disease (CBSD). Das Virus zerstört unter der Erde die essbaren Wurzelknollen, ohne dass man der Pflanze den Befall ansieht. Unbemerkt kann es so ganze Ernten vernichten. Eine wirtschaftliche Katastrophe für die Bauern.
Bart und ihr Team haben in jahrelanger Forschung herausgefunden, wie sie die Gene der Pflanzen verändern müssen, damit das Virus ihnen nichts mehr anhaben kann. Einen absoluten Schutz bietet das Verfahren aber noch nicht. Im Labor versuchen die Forscher dennoch, die Krankheitsresistenz in eine dafür besonders geeignete Variante der Maniok-Pflanze einzubauen.
Hilft der Super-Maniok allen Bauern?
"Wir haben noch viel Arbeit vor uns", sagt Bart. "Das betrifft allerdings nicht nur die technischen Hürden, sondern auch gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber gentechnisch veränderten Pflanzen."
Es sei wichtig, offen über die Forschung zu kommunizieren und eng mit den Landwirten in Afrika zusammenzuarbeiten, sagt Bart. "Nur so können wir herausfinden, welche Pflanzen den Betrieben vor Ort den größten Nutzen bringen." Barts Forschung wird von der Bill und Melinda Gates Foundation unterstützt und steht unter deren Global Access Policy: Von ihr entwickeltes Saatgut muss zu einem Preis angeboten werden, den sich auch Menschen in Entwicklungsländern leisten können.
Der Düngemittelmeister
Zu viel künstlicher Dünger auf den Feldern, der Böden und Gewässer belastet, ist mit nachhaltiger Landwirtschaft nicht vereinbar. Jean-Michel Ané arbeitet deshalb daran, dass künstlicher Stickstoffdünger überflüssig wird. Der Franzose beschäftigt sich mit Pflanzen, die ohne Dünger prächtig wachsen und will ihre Fähigkeiten auf herkömmliches Getreide übertragen - ganz ohne Gentechnik.
"Wir ernähren heute die halbe Welt mit synthetischen Düngern", sagt Ané. Grundlage für die Herstellung ist das Haber-Bosch-Verfahren, bei dem Stickstoff aus der Atmosphäre gezogen wird.
"Dafür braucht man allerdings fossile Brennstoffe wie Erdgas", erklärt der Forscher. Und die sind teuer. 30 Prozent der Kosten für den Weizenanbau gehen für Dünger drauf. Dabei gibt es Pflanzen, die von Natur aus mit sehr viel geringerer künstlicher Nährstoffzufuhr auskommen. Beispielsweise Sojabohnen. Bei ihrem Anbau macht der Dünger nur etwa fünf Prozent der Kosten aus. Das ist möglich, weil die Pflanzen eng mit Bakterien zusammenleben, die Stickstoff aus der Luft ziehen.
Die Mikroorganismen leben in Knöllchen an den Wurzeln des Sojas und machen den Stickstoff mithilfe eines Enzyms für die Pflanze nutzbar. "Am einfachsten wäre es, wenn wir Pflanzen beibringen könnten, dieses Enzym einfach direkt in ihren Zellen zu produzieren", sagt Ané. Dann könnten sie sich selbst düngen. Bis das gelingt, wird es nach seiner Einschätzung aber noch Jahrzehnte dauern.
Wie geht Ané vor?
Derzeit konzentrieren sich Wissenschaftler deshalb auf andere Ansatzpunkte: Ané erforscht eine alte Maissorte, die die Selbstdüngung perfektioniert hat. "Diese Pflanzen sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich", sagt er. Die indigene Bevölkerung in Mexiko pflanzt die Gewächse in extrem nährstoffarmen Böden auf 1500 bis 2000 Metern Höhe an und düngt sie nicht. Trotzdem werden sie bis zu sechs Meter hoch.
Untersuchungen haben gezeigt, dass der riesige Mais ungefähr die Hälfte seines Stickstoffs aus der Luft gewinnt. Ähnliche Werte erreichen auch Sojabohnen mit ihren Wurzelknöllchen. Herkömmlicher Mais bezieht dagegen nur 0,1 Prozent seines Stickstoffs aus der Luft.
Auf der Suche nach dem Grund für die Unterschiede, fiel den Forscher auf, dass der Stamm des exotischen Maises von oben bis unten mit Luftwurzeln übersät ist. Diese wachsen während des gesamten Lebens der Pflanze nach und bilden bei Regen ein zähflüssiges Gelee. Der Glibber bietet Bakterien, die Stickstoff aus der Luft gewinnen und Pflanzen zur Verfügung stellen können, optimale Bedingungen.
Wie weit ist die Technik?
"Die Fähigkeit des Urmaises, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen, lässt sich in unsere Sorten einkreuzen", sagt Ané. Der Forscher schätzt, dass die Züchtung fünf bis zehn Jahre dauern würde. Ob die Pflanzen dann ganz ohne Dünger auskommen, lässt sich heute schwer abschätzen. "Wir können die Menge aber zumindest reduzieren."
Zusammengefasst: Um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, muss die Landwirtschaft ihren Ertrag in den kommenden 30 bis 50 Jahren verdoppeln, schätzt die Uno. Gleichzeitig sollen Ressourcen gespart werden. Dazu versuchen Forscher, die Fotosynthese zu verbessern, Pflanzen vor Krankheiten zu schützen und Düngeralternativen zu entwickeln. Kaum ein Ansatz ist bereits heute ausgereift, doch glaubt man den Visionen der Forscher, wird sich die Landwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten drastisch verändern.
Von Julia Merlot | Spiegel Online